Newsletter Oktober 2021
Autor:innen: Daniel Kieslinger, Carolyn Hollweg
Herausgeber: BVKE, EREV, Inklusion jetzt!
In Berlin bildet sich langsam eine Ampelkoalition und legt die Leitplanken für die nächsten vier Jahre Bundespolitik. Auch wir aus dem Modellprojekt sind nah am politischen Geschehen und haben unsere Exertise im Rahmen eines Impulspapiers an die Koalitionär*innen eingebracht.
Parallel dazu geht die Arbeit an den unterschiedlichsten Themen im Projekt weiter und so lesen Sie in der vorliegenden Newsletterausgabe die Dokumentation unseres ersten Fachtages, lernen den Modellstandort Pauline von Mallinckrodt näher kennen und werfen mit Simone Patrin und Bernhard Sauer einen Blick auf das Teilhabestärkungsgesetz und dessen Auswirkungen auf die Praxis.
Kieslinger, Daniel; Hollweg, Carolyn (2021): Newsletter Oktober 2021. Herausgegeben von BVKE, EREV, Inklusion jetzt!
Inhalt
Veranstaltungshinweise und Rechtsgutachten Ombudschaft
Ein Modellstandort stellt sich vor
Dokumentation des ersten Projektfachages - Auf dem Weg zu einer inklusiven Erziehungshilfe
Fachbeitrag: Das Teilhabestärkungsgesetz- Zusammenfassung mit den relevanten Regelungsinhalten und Auswirkungen auf die Praxis
Liebe Leserinnen und Leser,
in Berlin bildet sich langsam eine Ampelkoalition und legt die Leitplanken für die nächsten vier Jahre Bundespolitik. Auch wir aus dem Modellprojekt sind nah am politischen Geschehen und haben unsere Exertise im Rahmen eines Impulspapiers an die Koalitionär*innen eingebracht.
Parallel dazu geht die Arbeit an den unterschiedlichsten Themen im Projekt weiter und so lesen Sie in der vorliegenden Newslet- terausgabe die Dokumentation unseres ersten Fachtages, lernen den Modellstandort Pauline von Mallinckrodt näher kennen und werfen mit Simone Patrin und Bernhard Sauer einen Blick auf das Teilhabestärkungsgesetz und dessen Auswirkungen auf die Praxis.
Kurzinformationen
Ein Modellstandort stellt sich vor: Das Kinderheim Pauline von Mallinckrodt
Das Kinderheim Pauline von Mallinckrodt stellt sich in diesem Newsletter vor. Mit der Zusammenführung der Sozialgesetzbücher VIII und XII sehen die Kolleg*innen an einen wichtigen gesellschaftlichen Wendepunkt. Der inklusive Gedanke soll zukünftig auch die Haltung der Mit- arbeitenden der Pauline von Mallinckrodt und der Einrichtung prägen:
„Wir wollen passgenaue Angebote für junge Menschen mit und ohne Einschränkungen aufbauen.“
Rechtsexpertise Ombudschaft
Das Bundesnetzwerk Ombudschaft in der Jugendhilfe hat im Rahmen seiner Kampagne zur #Kostenheranziehung ein neues Rechtsgutachten veröffentlicht.Der Fokus des Rechtsgutachtens liegt auf der Beantwortung praxisrelevanter Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung von Überprüfungsanträgen nach § 44 SGB X.
Dokumentation des ersten Projektfachtages - Auf dem Weg zu einer inklusiven Erziehungshilfe
Der Fachtag hatte zum Ziel die ers- ten Ergebnisse des Modellprojekts Inklusion jetzt- Entwicklung von Konzepten für die Praxis zusam- menzuführen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Mit rund 100 Teilnehmenden star- tete der Fachtag mit einem Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Schröer (Universität Hildesheim). Er mach- te deutlich, dass das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) nicht der Endpunkt eines Prozes- ses darstellt, sondern den Beginn zur Umsetzung der Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe darstellt. Nun sind die Akteur*innen in der Praxis an der Reihe, die gesetzli- chen Rahmensetzungen auszufül- len und für die Kinder und Jugend- lichen ‚Hilfen aus einer Hand‘ zu entwickeln.
Fachbeitrag
Teilhabestärkungsgesetz – Zusammenfassung mit den relevanten Regelungsinhalten und Auswirkungen auf die Praxis
Am gleichen Tag wie die Reform des SGB VIII wurde mit dem Teilhabestärkungsgesetz (BGBl. I S. 1387) am 09.06.2021 ein Gesetzespaket verkündet, welches einige interessante Veränderungen im SGB IX und SGB XII beinhal- tet.
Der Beitrag von Simone Patrin (Diakonie RWL) und Bernhard Sauer (Caritas Düsseldorf) setzt sich mit den relevanten Aspekten aus Sicht der jungen Menschen mit Behinderung auseinander und wirft einen Blick auf die hierbei besonders relevanten Aspekte aus Sicht der jungen Menschen mit Behinderung.
IX. ONLINE-SEMINAR des Modellprojekts Inklusion jetzt!
SGB XI – Rechte und Leistungen für junge Menschen mit Behinderungen
Während die „inklusive Lösung“ in den Hilfen zur Erziehung von einem zukünftigen Bundesgesetz abhängig gemacht wird, wird sie im Bereich der Kindertageseinrichtungen bereits umgesetzt.
Zur Anmeldung geht es hier: Onlineseminar IX
Neues Rechtsgutachten zum Thema Kostenheran- ziehung junger Menschen nach dem SGB VIII
Das Bundesnetzwerk Ombudschaft in der Jugendhilfe hat im Rahmen seiner Kampagne zur #Kostenheranziehung ein neues Rechtsgutachten veröffentlicht:
„Kostenheranziehung junger Menschen nach dem SGB VIII – ein Rechtsgutachten zum Thema Wiederaufnahme des Verfahrens und Rücknahme eines bestandskräftigen rechts- widrigen Kostenbescheids“
Der Fokus des Rechtsgutachtens liegt auf der Beantwortung praxisrelevanter Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung von Überprüfungsanträgen nach § 44 SGB X: Bestand- kräftig gewordene rechtswidrige Kostenbescheide können auch im Nachhinein korrigiert und zu Unrecht geleistete Kostenbeiträge zurückverlangt werden. Dies gilt auch für abge- schlossene Fälle.
Das Rechtsgutachten kann gegen Portokosten bestellt werden unter: info@ombudschaft-jugendhilfe.de
Eine Einrichtung stellt sich vor:
Das Kinderheim Pauline von Mallinckrodt
Wenn Nicht-Fachleute unsere Einrichtung besuchen und wissen möchten, was wir tun, erklä- ren wir dies folgendermaßen: wir sind ein klassisches Kinderheim. Wir betreuen 140 Kinder, Jugendliche und junge Volljährige in 18 verschiedenen Gruppen. Die Kids kommen zu uns, weil es eine heftige Krise in der Familie gibt. Wir wollen helfen diese Krise zu überwinden und ein gemeinsames Familienleben wieder zu ermöglichen.
Differenziertes Hilfe- und Betreuungsangebot
In unserer offiziellen Leistungsbeschreibung für Fachleute steht: Das Kinderheim Pauline von Mallinckrodt ist eine Einrichtung der Jugendhilfe mit einem differenzierten Betreuungs- und Hilfeangebot. Im Rahmen der Heimerziehung und anderer betreuter Formen nach §§ 27ff., 32, 34, 41 und 19 SGB VIII werden 140 Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und Mütter betreut. Hier soll jungen Menschen bei der Aufarbeitung von vorhandenen Entwick- lungsrückständen im emotionalen, sozialen und kognitiven Bereich mit sozialpädagogischen und therapeutischen Angeboten geholfen werden. Als Heim in freier Trägerschaft definieren wir unsere Hauptaufgabe darin, Kindern, Jugendlichen und Eltern, die in Konfliktsituationen geraten sind, bei der Bewältigung ihrer Probleme Unterstützung und Entlastung zu bieten.
Soweit die Kurzdarstellungen für Laien und Fachleute. Was aber steckt hinter diesen Be- schreibungen? Uns und allen unseren Kollegen*innen ist es wichtig junge Menschen ein Stück auf ihrem Lebensweg zu begleiten und Entwicklung zu ermöglichen. Bewusst behalten wir den mittlerweile ungebräuchlichen Begriff Kinderheim in unserem Namen. Er steht für das, was wir hier tun: eine Zeitlang Heimat sein, Sicherheit geben, eine Basis bieten, ver- sorgen, Bindung und Beziehung anbieten, Zeit miteinander verbringen. Liebevoll sprechen die jungen Menschen und das Kollegium von DER Pauline, wenn sie über unsere Einrichtung sprechen. Wir alle miteinan- der sind eine Gemeinschaft, die die Pauline füllt.
Zu dieser Gemeinschaft gehören 140 junge Individuen, die von rund 200 Mitarbeiter*innen fachlich begleitet werden. Die Mitarbeiterschaft besteht aus Pädagogen*innen unterschiedlichster Fachrichtungen, einem Psychologenteam, Hauswirt- schafter*innen, einem Küchen-, Werkstatt- und Verwaltungsteam.
Sozialräumliche Vernetzung mit Tradition
Die Zentrale der Pauline ist das große Haupthaus in Siegburg-Wolsdorf. In kurzer Entfernung um diese Zentrale liegen fünf Außenwohngruppen. Die 18 Gruppenangebote sind fachlich unterschiedlich ausgerichtet – neben drei Aufnahme- und Orientierungsgruppen für unter- schiedliche Altersstufen gibt es einen Intensivbereich mit zwei Traumagruppen und einer heilpädagogischen Gruppe. Die Außenwohngruppen definieren sich als Regelwohngruppen. Der Verselbstständigungsbereich unterteilt sich in Jugendgruppen, eine klassische WG und ein anschließendes Sozial Betreutes Wohnen. Abgerundet wird unser Angebot durch einen wachsenden Mutter-Kind-Bereich, eine Tagesgruppe und einen Ambulanten Dienst.
Seit 1903 gibt es die Pauline am Standort Siegburg. Gründerinnen waren Ordensfrauen in der Nachfolge der Namensgeberin Pauline von Mallinckrodt. Pauline war im 19. Jahrhundert eine mutige Frau, die sich in erster Linie um blinde Kinder kümmerte. Nach und nach er- weiterte sich das Aufgabenspektrum des damals stark wachsenden Ordens. Immer wieder hat sich die Einrichtung in ihrer nun fast 120-jährigen Geschichte verändert und sich neuen Themen und Aufgabenfeldern zugewandt, um gesellschaftliche Not zu lindern.
Hilfen aus einer Hand: Wichtiger gesell- schaftlicher Wendepunkt
Mit der Zusammenführung der Sozialgesetzbücher VIII und XII stehen wir wieder an einem wichtigen ge- sellschaftlichen Wendepunkt. Der inklusive Gedanke soll zukünftig auch unsere Haltung und unsere Ein- richtung prägen. Wir wollen passgenaue Angebote für junge Menschen mit und ohne Einschränkungen aufbauen. Befeuert werden soll dieser Prozess durch unsere Teilnahme am Modellprojekt „Inklusion jetzt!“.
Wir freuen uns auf diese neuen Herausforderungen.
Kontakt
Sonja Boddenberg
Heimleiterin sonja.boddenberg@kinderheim-pauline.de 02241 54960
Thomas Fischer-Wesselmann
stellv. Heimleiter thomas.fischer@kinderheim-pauline.de 02241 54960
Dokumentation des ersten Projektfachtages - Auf dem Weg zu einer inklusiven Erziehungshilfe
Der Fachtag hatte zum Ziel die ersten Ergebnisse des Modellprojekts Inklusion jetzt- Entwick- lung von Konzepten für die Praxis zusammenzuführen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Mit rund 100 Teilnehmenden startete der Fachtag mit einem Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Schröer (Universität Hildesheim). Er verwies darauf, dass das Kinder- und Jugend- stärkungsgesetz (KJSG) nicht der Endpunkt eines Prozesses darstellt, sondern den Beginn zur Umsetzung der Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe darstellt. Nun sind die Akteur*innen in der Praxis an der Reihe, die gesetzlichen Rahmensetzungen auszufüllen und für die Kinder und Jugendlichen ‚Hilfen aus einer Hand‘ zu entwickeln.
Er machte deutlich, dass die längst überfällige Anpassung des SGB VIII einen neuen Abschnitt der Leistungserbringung für junge Menschen und deren Familien markiert und es nun um die Ausgestaltung der Rechte der Adressat*innen geht. Dabei reichen die Auseinandersetzun- gen des ‚Wie‘ der sogenannten inklusiven Lösung bis in die Anfänge des SGB VIII zurück. Deutlich wurde, dass es nun darum geht, in einer partizipativ angelegten Weise die Grundrechte aller jungen Menschen zu verwirklichen und diese in ihrer Subjekthaftigkeit wahr und ernst zu nehmen.
Diese Stärkung der Rechte, so Schröer, kann dadurch gelingen, dass der Auftrag zum Aufbau infrastruktureller Strukturen in den sozial- räumlichen Bezügen konsequent umgesetzt und in einem gemeinsamen Prozess entwickelt wird. Dazu bedürfe es einer neuen Phase der Modellentwicklung, die durch die kommunale Politik aktiviert wird. Die Umsetzung des Gesetzes kann nicht nur verfahrensrechtlich geschehen, sondern muss sich vielmehr an den notwendigen Schritten zur diskriminierungsfreien Teilhabe junger Menschen orientieren: Die Hilfeangebote müssen sich daran messen lassen, in welchem Maß diese Teilhabe umgesetzt wird.
Nach dem Vortrag stand vor allem die Frage im Raum, was nun aktiv zu tun sei, um die Vorga- ben des KJSG aufzunehmen und gleichzeitig die Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe weiter voranzutreiben. Als Grundtenor wurde herausgearbeitet, dass vor allem die Aktivität in den bestehenden Gremien, wie den Arbeitsgemeinschaften nach § 78 sowie den Jugendhilfeausschüssen wesentliche Instrumente darstellen, um kommunal die nun not- wendigen Dialogprozesse in Gang zu setzen. Die Jugendhilfeträger sollten nun in einem ko- kreativen Prozess ein gemeinsames inklusives Leitbild entwickeln. Nun gilt es kommunal und auf Landesebene ein gemeinsames Verständnis von Inklusion zu entwickeln und konsequent umzusetzen.
Wie ein solcher Prozess vonstattengehen kann, wurde im zweiten Vortrag des Fachtages deutlich. Daniel Thomsen, Leiter des Jugendamts Nordfriesland, stellte in seinem Vortrag dar, „Wie die ‚inklusive Lösung‘ gelingen kann“. Nachdem er die lokalen Strukturen erläutert hatte, nahm Thomsen die Teilnehmenden mit in die Praxis seiner Arbeit. Dafür machte er zunächst deutlich, dass es einer gemeinsam von öffentlichen und freien Trägern geteilten Grundhaltung bedarf, deren Ziel die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Sozialräumen ist. Dabei hat für Thomsen die Prävention Vorrang vor Einzelfällen, was mit einer finanziellen Förderung niederschwelliger Angebote einhergeht. Die Verankerung einer inklusiven Haltung ist für ihn elementar in der sozialräumlichen Arbeit verankert und zwar als eine Haltung, der die Struktu- ren anzupassen sind.
Die Förderung der Bindung vom jungen Mensch und den Eltern sieht Thomsen dabei als die wesentliche Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe an. Bei der Entwicklung der ‚inklusiven Lösung für den Kreis Nordfriesland‘ war dabei die Frage leitend, wie für diese Haltung entsprechende Strukturen und Angebote geschaffen werden können.
Der Wille der Adressat*innen steht für ihn dabei immer im Mittelpunkt und ist immer in Ver- bindung mit den vorhandenen Ressourcen zu sehen. In der Praxis wird diese Haltung daran deutlich, dass das Familiensystem eingebunden wird in einen Prozess der Co-Produktion, die sowohl in der Eingliederungshilfe als auch in der Kinder- und Jugendhilfe von enger Zusam- menarbeit von Allgemeinem Sozialen Dienst, dem Sozialraumträger und weiteren beteiligten Professionen in sogenannten Regionalteams geprägt ist.
Die Falldurchführung übernimmt der entsprechende Träger der Eingliederungshilfe bezie- hungsweise der Kinder- und Jugendhilfe. Dieser führt flexible Hilfen durch, passt gegebe- nenfalls Strukturen und Bedarfe an, kooperiert mit anderen Trägern und zieht sich bei Bedarf Spezialwissen heran. Der Fallverlauf wird regelmäßig überprüft und mit dem Regionalteam rückgesprochen. Die fallspezifische Arbeit erfolgt systemisch und ist von einem partnerschaftlichen Miteinander von freier und öffentlicher Jugendhilfe geprägt. Kurze Entscheidungswege und niedrige Hierarchien prägen die Zusammenarbeit.
In sogenannter fallunspezifischer Arbeit entwickeln Regionalteams mit Kooperationspartnern unterschiedliche Angebote entlang der Bedarfe der Adressat*innen im jeweiligen Sozialraum.
Die Finanzierung und Steuerung, so Thomsen, erfolgt mittels Sozialraumbudgets auf Ist-Kos- ten-Basis. Damit soll der Weg weg von einer Defizitorientierung, hin zu einer Ressourcen- orientierung gegangen werden, damit systemisch und multiprofessionell gemeinsam an der Verbesserung der Lebenslagen aller jungen Menschen gearbeitet werden kann.
Für die Umsetzung der ‚großen Lösung‘ bedarf es laut Thomsen einer gemeinsamen Haltung und Mut, sich den Herausforderungen anzunehmen. Die Konzentration auf Ressourcen der jungen Menschen und der gesamten Familiensysteme sollte dabei im Mittelpunkt stehen, an der sich die organisatorisch-strukturelle Entwicklung orientieren sollte.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist für Thomsen die finanzielle Klärung in den Ländern und den Kommunen, da es letztendlich nur um Verschiebungen steuerlicher Mittel geht, die zum Wohl der Gemeinschaft einzusetzen sind.
Die sich anschließende Diskussion machte deutlich, dass ein inklusiver Prozess, wie Thom- sen ihn beschrieben hatte, auf lange Sicht nicht nur die Situation von jungen Menschen und deren Familiensystem verbessert, sondern auch mit einer für die öffentlichen Haushalte posi- tiven Kostenentwicklung einhergeht.
Nach der Mittagspause hatten die Teilnehmenden Gelegenheit, sich in sechs unterschied- lichen Workshops mit konkreten Fragestellungen auseinanderzusetzen:
Workshop 1 befasste sich mit der inklusiven Angebotsentwicklung im Jugendhof Gotteshüt- te. Britta Obernolte und Lars Schünke gaben Einblick in den Prozess ihrer Einrichtung und sensibilisierten die Teilnehmenden für die Kernthemen der Entwicklung inklusiver Angebote. Wichtige Themen waren dabei die Frage nach der inklusiven Haltung und wie diese in der Mitarbeitendenschaft und der gesamten Einrichtung verankert werden kann. Dabei wurde besonders deutlich, wie eng Personalentwicklung, Qualitätsentwicklung, Organisationsent- wicklung und multiprofessionelle Vernetzung miteinander verzahnt sind. Der sich anschlie- ßende Austausch kann im Padlet fortgesetzt werden.
Workshop 2 fokussierte die inklusive Organisationsentwicklung. Petra Hiller von der Stiftung Overdyck ging mit den Teilnehmenden anhand von 14 Leitfragen ins Gespräch und formulierte unterschiedliche Themenschwerpunkte, an denen gearbeitet werden muss, um eine Organisation inklusiv aufzustellen. Unter anderem waren dabei ebenso Verfahren wie Hilfe- planung und Partizipation der jungen Menschen im Fokus, wie auch die infrastrukturellen Herausforderungen wie Barrierefreiheit und Mitarbeitendenfortbildungen
Workshop 3 führte die Teilnehmenden in die Internationale Klassifikation der Funktionsfähig- keit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ein. Uwe Niederlich von der Rummelsberger Diako- nie gab den Teilnehmenden grundlegende Informationen zum Bio-Psycho-Sozialen Modell der ICF und erläuterte den Prozess der Bedarfsermittlung.
Workshop 4 öffnete den Blick für Prozesse im Sozialraum. Ute Thumer von der Diakonische Jugendhilfe Region Heilbronn und Andrea Wapsas aus der Einrichtung St. Petri und Eichen nahmen die Beteiligten mit in die Entwicklung inklusiver Sozialraumkonzepte. An den Bei- spielen von Heilbronn und Bremen wurde deutlich, welches Potential inklusive Quartiers- entwicklung hat, um die Lebensqualität der Bewohner*innen zu verbessern und zu erhöhen. Fazit des Workshops war: Quartiersentwicklung lohnt sich! Dadurch werden Synergieeffekte genutzt, Adressat*innen empowert und Angebote weiterentwickelt.
Workshop 5 ermöglichte den Einblick in Beteiligungskonzepte für junge Menschen in der Eingliederungshilfe. Sonja Pigor und Christiane Busch von der Nieder-Ramstädter Diakonie stellten sich mit den Workshopteilnehmenden die Frage: Wie kann Beteiligung von Men- schen mit Beeinträchtigungen in der Praxis aussehen? Anhand des Beispiels von „Mein Pan Kinder“, einem ICF-basierten Instrument, stellten die beiden Kolleginnen die Möglichkeiten von Beteiligung nach Stand der Entwicklung des jungen Menschen vor. Mit dieser Methode, die vor allem auf Beobachtung setzt, geht es um die Wünsche und Ziele der beeinträchtigten Person und sie verlangt eine sehr sensible Arbeit mit dem jungen Menschen.
Workshop 6 fokussierte das Thema der gelingenden Elternarbeit. Die Referentinnen Andrea Grugel von der St. Josefs gGmbH Stuttgart und Delia Godehardt vom Jugendamt Stuttgart gestalteten mit den Beteiligten einen interaktiven Workshop und bearbeiteten gemeinsam einen Fall nachdem die Methode des ‚Beteiligungsorientierten Stadtteilteams‘ dargestellt wurde. Dieses legt den Fokus auf die Partizipation der jungen Menschen und deren Fami- liensystem, um sozialraumorientiert und interdisziplinär zu arbeiten.
Als Fazit des Fachtages lässt sich festhalten, dass es bereits viele modellhafte inklusive Vor- gehen in der Praxis gibt. Es wurde aber auch deutlich, dass besonders die Zusammenarbeit unterschiedlicher Systeme und Trägerstrukturen noch bei Weitem nicht den Anforderungen der inklusiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe genügt. Es bedarf also eines mutigen Vorangehens öffentlicher wie freier Träger, um die Teilhabebarrieren für junge Menschen in der Gesellschaft zu beseitigen. Der Rahmen ist gesetzt, nun gilt es ihn zu füllen!
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Zweiter Fachtag im Rahmen des Modellprojekts
10. Februar 2022, Frankfurt am Main, Spenerhaus Die Anmeldung unter diesem Link möglich!
Fachbeitrag: Teilhabestärkungsgesetz – Zusammenfassung mit den relevanten Re- gelungsinhalten und Auswirkungen auf die Praxis
Simone Patrin, Bernhard Sauer
Am gleichen Tag wie die Reform des SGB VIII wurde mit dem Teilhabestärkungsgesetz (BGBl. I S. 1387) am 09.06.2021 ein Gesetzespaket verkündet, welches einige interes- sante Veränderungen im SGB IX und SGB XII beinhaltet. Der hiesige Beitrag setzt sich dabei mit den relevanten Aspekten aus der Sicht der jungen Menschen mit Behinderung auseinander und wirft einen Blick auf die hierbei besonders relevanten Aspekte aus Sicht der jungen Menschen mit Behinderung.
I. Besonders relevante Aspekte aus der Perspektive der jungen Menschen mit Behinderung
- Gewaltschutz für Menschen mit Behinderung, 37a SGB IX
- 37a Abs. 1 SGB IX sieht vor, dass die Leistungserbringer geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Men-
schen insbesondere in Bezug auf Frauen und Kinder treffen. Letztendlich ist dies eine aus Artikel 16 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) resultierende Umsetzungs- maßnahme (BT-Drs. 19/27400, S. 61). Der Begriff „Gewaltschutz“ wird dabei vollumfäng- lich verstanden und erfasst jede Form von Gewalt mit dem im Gesetzestext betonten besonderen Fokus auf Frauen und Kinder (BT-Drs. 19/27400, S. 61). Zu den geeigneten Maßnahmen gehören neben der Entwicklung und Umsetzung eines auf die Einrichtung oder Dienstleistungen zugeschnittenen Gewaltschutzkonzepts, Fortbildungs- und Sen- sibilisierungsmaßnahmen für Mitarbeitende, Präventionskurse für Menschen mit Behin- derungen, Vernetzung mit externen Partnern und feste interne Ansprechpersonen sowie Beschwerdestellen und andere geeignete Beteiligungsstrukturen (BT-Drs. 19/27000, S. 62).
Die in der Gesetzbegründung geäußerte Vermutung, dass viele Leistungserbringer bereits Gewaltschutzkonzepte vorhalten (BT-Drs. 19/27400, S. 61), kann in der Praxis bestätigt werden. Dennoch bedarf es noch Erweiterungen und Ergänzungen der bestehenden Kon- zepte, um den vollumfänglichen Schutz vor Gewalt zu erfassen. Für Träger besonderer Wohnformen mit minderjährigen Leistungsberechtigten besteht nunmehr eine doppelte Verpflichtung, sich mit dieser Thematik zu befassen, da die Vorlage des Konzepts auch im Rahmen der Betriebserlaubnis erforderlich wird (§ 45 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 SGB VIII).
- Ausweitung des Budgets für Ausbildung, 61a SGB IX
Zum Stichtag 01.01.2022 werden auch Menschen mit Behinderungen, die sich im Arbeits- bereich einer Werkstatt für behinderte Menschen oder eines anderen Leistungsanbieters
befinden, die Möglichkeit haben, das Budget für Ausbildung zu erhalten (§ 61a Abs. 1
SGB IX 2022).
Zugleich wird dabei der grundsätzliche Umfang des Budgets verändert und ergänzt. Bis- her war vorgesehen, dass die Erstattung der Ausbildungsvergütung bis zu der Höhe er- folgt, die in einer einschlägigen tarifvertraglichen Vergütungsregelung festgelegt ist und bei Fehlen einer solchen bis zu der Höhe der nach § 17 des Berufsbildungsgesetzes für das Berufsausbildungsverhältnis ohne öffentliche Förderung angemessenen Vergütung (§ 61 Abs. 2 SGB IX aktuelle Fassung). Diese Begrenzung fällt nunmehr weg. Es ist nach
dem Gesetzeswortlaut eine angemessene Ausbildungsvergütung zu erstatten, womit si- chergestellt ist, dass diese Vergütung unabhängig vom individuellen Ausbildungsvertrag in voller Höhe übernommen wird (BT-Drs. 19/28834, S. 57). Die Erstattung schließt dabei auch den Anteil des Arbeitgebers am Gesamtsozialversicherungsbeitrag und des Bei- trags zur Unfallversicherung mit ein. Zudem umfasst das Budget auch die Übernahme der erforderlichen Fahrtkosten. Der Gesetzgeber erhofft sich von den Veränderungen des § 61a Abs. 2 Nr. 1 SGB IX, dass mögliche Einstellungshemmnisse entfallen (BT-Drs. 19/28834, S. 57).
Nach § 61a Abs. 2 S. 2 SGB IX 2022 wird es zukünftig zudem erforderlich sein, dass vor dem Abschluss einer Vereinbarung mit einer Einrichtung der beruflichen Rehabilitation, dem zuständigen Leistungsträger das Angebot mit konkreten Angaben zu den entstehen- den Kosten zur Bewilligung vorzulegen ist. Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation wie Berufsbildungswerke schließen Verträge auf Grundlage anderer Sozialgesetzbücher beispielsweise des SGB III und gerade nicht mit dem Träger der Eingliederungshilfe, der aber über die hiesigen Leistungen entscheidet (§§ 111 i. V. m. § 61 SGB IX). Daher muss für sie eine anderweitige Prüfmöglichkeit bestehen, die auf diese Weise eingeräumt wird (BT-Drs. 19/27400, S. 63).
Nach der noch aktuellen Regelung in § 61a Abs. 5 SGB IX soll der „zuständige Leis- tungsträger“ bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz unterstützen. Der Begriff des zuständigen Leistungsträgers wird nunmehr auf die Bundesagentur für Arbeit konkretisiert. Zudem gilt diese Bestimmung fortan auch bei der Suche nach einer Ein- richtung der beruflichen Rehabilitation, wenn wegen Art oder Schwere der Behinderung der Besuch einer Berufsschule am Ort des Ausbildungsplatzes nicht möglich ist.
Die Erweiterung auf den Personenkreis der bereits beschäftigten Menschen ist zu begrüßen. Es bleibt zu hoffen, dass die gesetzgeberischen Ziele in dieser Form erreicht werden können. Leider ist in der Praxis festzustellen, dass der „Schuh“ an weiteren Stellen drückt. Der Zugang in eine Werkstatt beziehungsweise in den Arbeitsmarkt ge- staltet sich für den Personenkreis „Menschen mit einer Lernbehinderung“ als schwierig, trotz der Bemühungen aller Beteiligter, insbesondere auch der Bundesagentur für Arbeit.
- Leistungsberechtigter Personenkreis nach dem SGB IX
Die Regelung des leistungsberechtigten Personenkreises ist der verbliebene noch re- gelungsbedürftige Punkt des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Bisher galt das alte Verständnis beziehungsweise die alte Regelung weiter, bis eine neue Bestimmung mit einem modernen Verständnis basierend auf dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF gefunden wird (BT-Drs. 18/9522, S. 275).
Zur Umsetzung dieses Ziels wurde eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, dessen Er- gebnisse am 27.02.2021 vorgestellt wurden. Demnach reiche das Vorliegen einer Be- hinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 SGB IX für einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nicht aus und man kann somit, anders als ursprünglich gedacht, auf den Begriff der wesentlichen Behinderung nicht verzichten (Ergebnisse abrufbar unter: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/service/aktuelles/ergebnisse-ag-leistungs- berechtigter-personenkreis/).
Diese Maßnahmen werden nunmehr in § 99 SGB IX umgesetzt. Damit besteht zunächst Rechtssicherheit für den Umgang mit dem Begriff der Leistungsberechtigten in der Ein- gliederungshilfe. Allerdings ist der Regelungsbedarf hiermit noch nicht abgeschlossen. Zur weiteren Umsetzung bedarf es einer konkretisierenden Rechtsverordnung. Bis zum Inkrafttreten dieser Rechtsverordnung gelten die §§ 1-3 Eingliederungshilfe-Verordnung von 2019 weiter. Die hierdurch zu erwartenden Konkretisierungen und Erneuerungen bleiben abzuwarten.
II. Weitere Ziele – kurz zusammengefasst
Ein zentrales Regelungsanliegen der hier beschriebenen Reform ist zudem die verfas- sungsgemäße Gestaltung der Zuständigkeitsregelungen in Bezug auf das Bildungs- und Teilhabepaket im SGB XII. Dies wird ab dem 01.01.2022 durch Landesrecht zu bestim- men sein (vgl. § 34c SGB XII), die gesetzliche Festschreibung der regelmäßige Über- prüfungen der Höhe der durchschnittlichen Warmmiete in der besonderen Wohnform (§ 45a SGB XII) und die Stärkung der Verbindlichkeit von Teilhabeplankonferenzen. Der zuletzt genannte Aspekt wird dadurch umgesetzt, dass nunmehr der verantwortliche Rehabilitationsträger nur in eng geregelten Fällen von dem Wunsch zur Durchführung der Teilhabeplankonferenz abweicht (BT-Drs. 19/28834, S. 9). Diesem Ziel dient die Ergänzung des Wortes „nur“ in § 20 Abs. 1 S. 3 SGB IX. Es wird sich zeigen, welche Auswirkungen die Änderungen in der Praxis haben werden. In diesem Zusammenhang sei aber noch auf die Veränderungen der SGB VIII-Reform im Eingliederungshilferecht verwiesen, welche bei minderjährigen Leistungsberechtigten nunmehr eine Information und beratende Teilnahme der Jugendämter vorsehen (§ 117 Abs. 6 SGB IX).
Im Zusammenhang mit den Erläuterungen zum Teilhabestärkungsgesetz soll an dieser Stelle noch auf eine weitere Neuregelung hingewiesen werden. Dieses sieht – neben einer Vielzahl weiterer an dieser Stelle nicht relevanten Änderungen – eine Ergänzung des § 113 SGB IX vor und ermöglicht Leistungsberechtigten die Hinzuziehung einer ver- trauten Bezugsperson bei der Krankenhausunterbringung (BT-Drs. 19/31069, S. 178). Als Bezugspersonen gelten solche Personen, die dem Leistungsberechtigten gegen- über im Alltag bereits Leistungen der Eingliederungshilfe erbringen. Das entsprechende Artikelgesetz, welches diese Änderung vorsieht, ist noch nicht verkündet worden, hat aber sowohl Bundestag als auch Bundesrat erfolgreich passiert. Mit der Änderung wird somit die jahrelange Praxis wegfallen, im Rahmen dessen Leistungserbringer ohne Re-
finanzierung die Begleitung übernommen haben. Der Bundesrat fordert in seiner Be- schlussdrucksache eine Ausweitung des anspruchsberechtigten Personenkreises auf alle Menschen mit Behinderung, das heißt über den Kreis von Menschen mit Behinde- rung nach Teil 2 des SGB IX und § 35a SGB VIII hinaus (BR-Drs. 659/21, S. 3). Ob und wie dies umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.
III Fazit/Ausbilck
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das Teilhabestärkungsgesetz einige positive Veränderungen mit sich bringt wie die Verankerung des Schutzkonzeptes und die Aus- weitung des Budgets für Arbeit. Dennoch bleiben viele Probleme der Praxis wie etwa der Zugang für Menschen mit Behinderung in eine Werkstatt beziehungsweise in den Arbeitsmarkt, Fragen der Einbeziehung von Leistungserbringern in die Teilhabeplanung sowie die weitere Konkretisierung des leistungsberechtigten Personenkreises durch die ausstehende Entwicklung einer entsprechenden Verordnung bestehen.
Autor*innen
Simone Patrin
Diakonisches Werk Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. – Diakonie RWL Zentrum Recht
E-Mail: s.patrin@diakonie-rwl.de
Telefon: 0211 6398-257
Bernhard Sauer
Pädagogische Leitung
St. Raphael Haus - Integrative Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Düsseldorf -Caritasverband Düsseldorf e.V. E-Mail: Bernhard.Sauer@caritas-duesseldorf.de
Telefon 02117810-112 oder 02117810-0